Schatzkiste der längst vergessenen Texte: Hab‘ noch etwas Geduld
Ich habe gerade etwas in den untiefen meines Dateisystems gesucht und kam auf ein Text, den ich 1999 geschrieben habe – daher noch die alte Rechtschreibung 🙂
Hab’ noch etwas Geduld
Tagebucheintrag vom 26. Juni 2053.
Die letzte Unterweisung meines Vaters ist nun schon ein paar Monate her und ich freue mich schon sehnsüchtig auf unseren nächsten Termin. Als wir das letzte mal so zusammensaßen war er irgendwie komisch. Wir waren nicht wie die Male zuvor auf unserer RobinsonInsel – wie mein Vater seine Privatinsel irgendwo im Pazifik nannte -, sondern wir blieben zu hause. Eigentlich ist an unserem Haus nichts besonderes, es sieht aus wie all die anderen Häuser in der Straße, ja wie all die anderen Häuser in den Vororten größerer Metropolen – vielleicht sogar so, wie all die anderen Häuser auf der ganzen Welt. Nur etwas ist doch anders. Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, da Clara – unsere Hausangestellte – mir vor langer Zeit, als ich noch klein war und bei einem heftigen Gewitter Angst hatte, eine Geschichte über unser Haus erzählt hatte. Ich erinnere mich noch, als ob es Gestern gewesen wäre…
… „oh’ kleiner Billy du mußt keine Angst haben vor dem Gewitter, du wohnst nämlich in einem magischen Haus. Du mußt wissen, als dein Vater dieses Haus gebaut hatte, hat er es mit einer magischen Hülle versehen. Diese Hülle hält alles Böse ab, unser Haus zu betreten…“
Ich habe meinen Vater in der Vergangenheit immer wieder auf unser magisches Haus angesprochen. Er wich mir aber immer aus und sagte, es wäre noch nicht die richtige Zeit dafür. Nur bei unserer letzten Unterweisung zuhause teilte er mir mit, daß nun bald die Zeit gekommen sei, wo ich sein Lebenswerk weiterführen muß. Er meinte auch, daß er es gerne selbst zu Ende gebracht hätte, aber so etwas könne man nicht erzwingen. Naja, morgen wird er endlich sein Geheimnis lüften und ich sollte jetzt versuchen wenigstens, noch die verbleibenden zwei Stunden bis dahin zu schlafen…
Tagebucheintrag vom 27. Juni 2053.
Das mit den zwei Stunden Schlaf war natürlich pure Utopie! Ich habe kein Auge zugetan. Na gut, dann muß ich den Tag halt ohne Schlaf auskommen.
Endlich ist es soweit, mein Vater hat mich soeben zu sich gerufen. Ich schalte mein Tagebuch-Recorder auf automatischen Mitschnitt, dann kann ich später nochmals alles in Ruhe nachlesen…
[Automatischer Mitschnitt aktiviert - Start: 0027/0006/2053:0015/0028]
„Setz dich doch, kleiner Billy. Es ist nun an der Zeit, daß ich dich in mein letztes Geheimnis einweihe, damit Du mein Sohn mein Lebenswerk fortführst. Aber zuerst werde ich dir die Antwort auf deine Frage zu unserem Haus geben.
Als ich etwa so alt war wie Du, habe ich dieses Haus bauen lassen. Aber ich habe so eine Art Schleier um das Haus gelegt. Die Wände die Du hier siehst, sind keine gewöhnlichen Wände, sondern sie lassen nichts hindurch – kein Wort dringt durch diese Wände jemals nach draußen und auch nichts kann von draußen hindurch zu uns herein kommen. Wir können hier drinnen also alles besprechen was wir wollen, ohne das uns jemand zuhört – insofern gefällt mir deine Vorstellung von einer ‘magische Hülle’ ganz gut. Also merke dir, alles was ich dir jetzt erzähle darfst Du außerhalb dieses Hauses nicht weitererzählen und auch innerhalb unseres Hauses darfst Du dieses Wissen – wenn die Zeit gekommen ist – nur deinem Sohn weitergeben. Hast Du das verstanden?“
„Ja, Vater.“
„Gut, dann will ich dir von meinem Lebenswerk erzählen. Als ich mein Ziel erreicht hatte, der reichste Mann der Welt zu sein, habe ich lange Zeit nach meinem neuen Sinn des Lebens gesucht und eines Tages habe ich ihn gefunden: Meine Bestimmung ist es, die Allmacht zu erlangen. Fortan versuchte ich, meinem Ziel Stück für Stück näher zu kommen. Ich erkannte, daß alles für mein Ziel in dieser Welt bereits existierte – und maximal noch entdeckt werden mußte – um dann nur noch von mir zusammengefügt zu werden. Da ich mit meiner Firma genau dieses Zusammenfügen bereits erfolgreich umzusetzen wußte, war alles weitere für mich ein leichtes. So baute ich schrittweise ein Informationsnetzwerk auf und lernte aus meinen Fehlern sukzessive.
Ich erinnere mich noch genau, als ich persönliche Daten der Benutzer ohne ihr Wissen in meiner Zentrale sammelte. Ein paar Spitzfindige kamen irgendwann dahinter und ich lieferte schnell einen ‘Bugfix’ um das vermeintliche Sicherheitsloch zu schließen. Im zweiten Anlauf habe ich dann mein eigenes Übertragungsprotokoll als de-facto-Standard durchgedrückt, wobei ich den Menschen eigentlich nur das geben mußte, was sie wollten – nämlich ein Protokoll für alles. Alle waren glücklich über den Umstand, daß nur noch ein Treiber für alle Arten der Kommunikation notwendig war und mein ‘Innovationsgedanke’ wurde überall hoch gelobt. Dabei habe ich nur alle zu dieser Zeit bestehenden Kommunikationsformate genommen und zu einem Format zusammen gefügt. Nebenbei hat natürlich niemand mehr bemerkt, daß ich die gleichen persönlichen Benutzerdaten aus meinem letzten Anlauf – diesmal dank Steganographie in den für das Protokoll notwendigen Synchronisationssignalen verschlüsselt – wiederum an die Zentrale übertragen hatte.
Nach und nach investierte ich mein Geld in die Informationstechnologie und sammelte jede Information, die ich bekommen konnte, schien diese auch noch so unwichtig zu sein. Meine einzige Aufgabe war, zu warten und im richtigen Augenblick zu handeln! Und Du mein Sohn hast diese letzte Prüfung heute auch bestanden. Hab’ also auch in Zukunft Geduld und vertraue auf die Innovation der Menschen. Deine Bestimmung ist es, die von den Menschen gefundenen Puzzleteile zu einem Ganzen zusammen zu fügen. Das von mir aufgebaute Informationssystem wird dich in Deiner Aufgabe unterstützen. Du mußt nur warten können. Irgendwann ist das Puzzle der Welt in der wir leben fertig. Dann kommt die Zeit Deiner Allmacht, denn nur wer das gesamte Bild vor Augen hat besitzt die Omnipotenz! Schütze dieses Wissen gut und denke immer daran, alles was Du auf dem Weg zu diesem Ziel machst, dient der Sache. Nutze die gesammelten Informationen ohne zu zögern.
Geh nun und vollende mein Lebenswerk!“
[Automatischer Mitschnitt deaktiviert - Ende: 0027/0006/2053:0015/0043]
Ich habe mir gerade das Gentechnik-Puzzle angesehen und mich gefragt, wieso ich mein Leben nicht etwas verlängern soll? Somit bin ich auf jeden Fall derjenige, welcher dieses ominöse Gesamtbild, von dem mein Vater gesprochen hat, als erster sieht. Falls er recht hat, habe ich dann die Allmacht. Ein verlockender Gedanke!