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Die volle Tasse

Schnappfisch-1769Ich stand vor seinem offenen Sarg. „Wieso konnte er nicht loslassen?“, schoss es mir in Gedanken, „nur ein wenig von dem geben, von dem er doch so viel hatte?“.

Der Sarg wurde verschlossen, aber nicht der Gedanke an sein Leben.

Wie schön war seine Kindheit! Jeden Tag füllte er seine Tasse mit frischem Wasser und jeden Tag gab er etwas von dem Nass seiner Lebenspflanze. Er hegte und pflegte sie, so dass sie einen kräftigen Stamm mit vielen Ästen bekam, die unzählige Blüten tragen konnten.

Die Jahre vergingen und die Tasse wurde nicht mehr gar so voll wie am Anfang. Wasser wurde knapp, das spürte auch seine Pflanze. Eines Tages aber kam er auf die Idee, seiner Pflanze nichts mehr von seinem wertvollen Wasser zu geben, bis die Tasse wieder voll ist.

Es war eine harte Zeit für die Pflanze, aber sie stand es durch.

Als die Tasse dann randvoll war, bekam sie das überschüssige Wasser ab. Es war ausreichend und so beklagte sie sich nicht und schenkte ihm weiterhin viele Blüten.

Nur unmerklich, für die Pflanze aber spürbar, wurde der Überschuss an Wasser stets weniger und so trug sie immer weniger Blüten zur Schau.

Ihm schien das nicht weiter auf zu fallen, hat er doch stets eine volle Tasse.

Es kam der Tag, ab dem kein neues Wasser hinzu kam. Zuerst bot die Erde der Pflanze noch Reserven, aber auch die waren bald erschöpft. Es vergingen noch zwei lange Tage, dann gab die Pflanze auf. Er folgte ihr noch am selben Tag.

Und nun liegen beide hier vor mir in dem Sarg. Wiedervereint bis in alle Ewigkeit!

Der Sarg wird herunter gelassen und mit frischer Erde bedeckt. Ich nehme seine volle Tasse und ergieße das Wasser über das Grab – „möge es Kraft für neues Leben spenden“, sage ich leise.

Die leere Tasse gebe ich an den Jüngsten weiter, damit er sie wieder füllen kann.

Beim Weggehen sehe ich noch den Grabstein, der schon bereit steht und lese die Inschrift:

Wenn beide vereint sind, ruht der Mensch in sich. Ruhe in Frieden!

Ich danke Krishnamurti für die unzähligen Einsichten!

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Auf den Punkt zu bringen, wer man ist, fällt weitaus schwerer, als andere in eine Schublade zu stecken ;-) Im Kern bin ich freiheitsliebend, freigeistig und gerne auch mal (benimm-)regelverstoßend. Ansonsten ganz "normal".
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