Wenn die Schatten wachsen
Einstmals gute Ansätze beginnen sich zunehmend ins Gegenteil zu verkehren. Wo früher klare Konturen gezeichnet wurden, entfernt sich die Ideen immer weiter weg vom Menschen zu einem Brennpunkt. Es ist wie ein Schatten auf einer Wand, ist das Objekt nah genug an der Wand, ist der Schatten klar gezeichnet, je näher das Objekt zur Lichtquelle kommt und weg von der Wand, um so größer und diffuser wird der Schatten.
Nun sind wir kurz vor dem Punkt, an dem das Objekt mit der Lichtquelle in Berührung kommt. Die Folge ist, dass sich der Schatten auflöst. Unsere marktwirtschaftlichen Mechanismen folgen einem ähnlichen Weg. Starten diese noch nah genug am Menschen (der Wand), so entfernen sich diese immer mehr von ihrem eigentlichen Zweck hin zum Punkt der Auflösung (der Lichtquelle). Es scheint fast so, dass diese Lichtquelle die Objekte magisch anzieht und damit ihre Existenz auflöst.
Ein Beispiel: die einstmals tragende Idee einer Aktiengesellschaft war durch die Notwendigkeit gegeben, sich am Markt Kapital zu beschaffen. Dieser Kerngedanke ist auch heute noch vorhanden. Das Unternehmen erhält in der Regel jedoch nur einmal, bei der Aktienemission, Kapital. Ab dann profitieren andere Akteure von Aktiengewinnen und -Verlusten. Ähnlich einem Künstler, der beim ersten Verkauf seines Werks Geld erhält und beim den folgenden Wiederverkäufen leer ausgeht.
Aus dieser Sichtweise könnte es den Aktiengesellschaften eigentlich egal sein, wie sich ihr Aktienkurs entwickelt. Zum Problem wird ein niedriger Aktienkurs aber dann, wenn eine Aktienmehrheit günstig erworben werden kann um über diesen Einfluss die zukünftigen Entwicklungen des Unternehmens zu bestimmen. Da mit kurzfristigen Aktionen jegliche Bilanz aufgehübscht werden kann, um das Unternehmen sogleich mit einem Gewinn zu verkaufen, ist bereits zum Geschäftsmodell unserer Zeit geworden. Daher wundert es nicht, dass das Top-Management eines Unternehmens mehr auf die Quartalszahlen für die Börse achtet, statt auf langfristige Entwicklungen.
Ein weiteres Schattenbeispiel wird bei dem Atomausstieg sichtbar. Nachdem der Atomausstieg in Deutschland beschlossen ist, wird zunehmend klar, welche Kosten der Rückbau und die Entsorgung kosten. Die bisherigen Rückstellungen der Atomindustrie von 36 Milliarden Euro reichen bei weitem nicht aus, um die Atommeiler fachgerecht zu demontieren und die Endlagerung des angefallenen Atommülls über seine Strahlungsdauer zu bezahlen. Alleine die Bezahlung eines Pförtners bei der Endlagerstätte würde nach heutigen Lohnkosten (ohne Lohnsteigerungen) das Budget auf brauchen. Sicherlich werden wir langfristig auch diesen Arbeitsplatz abbauen können, das Beispiel soll nur verdeutlichen, wie schwer wir Menschen uns mit der Abschätzung unglaublich langer (Halbwerts-)Zeiten tun.
Die Lösung ist auch heute bereits klar, auch wenn uns die Politik derzeit noch etwas vom Verursacherprinzip weiß machen will. Bezahlen wird die Entsorgung jeder von uns – auch den nächsten 1.000 und mehr Generationen werden wir etwas von den Kosten überlassen.
Ein dritter Schatten wächst zunehmend heran: der Schatten des Automobils. Die Autohersteller stecken momentan in einem Dilemma. Um die Stückkosten klein zu halten, muss die Massenproduktion ausgelastet sein. Fehlen jedoch die Käufer, wird auf Halde produziert. Wird die Haldenproduktion zu groß, sieht man diese Neuwagenfriedhöfe dann irgendwann auf Luftbildern. Die offizielle Statistik lässt sich kurzfristig noch mit Tageszulassungen besänftigen, langfristig wirkt auch dieses Mittel nicht. Mit der Zunahme des Schattens wird das Problem des Märchens vom ewigen Wachstum sichtbar.
Dabei ist jeder von uns selbst ein Protagonist des Märchens. Um unsere Rente zu sichern, sparen wir uns in den Jahren davor etwas an. Dabei vertrauen wir, dass das Angesparte sich wundersam bis zum Rentenantritt vermehrt – dank dem Zinseszins-Effekt gerne auch das Vielfache unserer Anlagesumme. Rentenfonds stehen damit vor einer großen Herausforderung, damit das Märchen nicht zur Utopie wird. So schauen sie stets nach profitablen Möglichkeiten, mehr aus dem Geld der zukünftigen Rentner zu machen. Schnell mit ein paar Milliarden Euro in ein Aktienunternehmen ein zu steigen, um ebenso schnell wieder mit einem Kursgewinn aus zu steigen, wird zum Tagesgeschäft. Heftige Kursschwankungen an der Börse sind bei solchen Anlagesummen dann keine Überraschung mehr und damit steigt die Gefahr der feindlichen Übernahme.
Was wir momentan beobachten können, gleicht einem Mottenflug in der Nacht. Angezogen vom Licht fliegen die Motten dem Tod entgegen. Mit wachsendem Schatten kommt irgendwann der Zeitpunkt, in dem der Schatten verschwindet. Vieles deutet darauf hin, dass wir uns in einigen Dingen nicht all zu sehr von Motten unterscheiden.
Die Zeit fährt Auto, doch kein Mensch kann lenken.
(Erich Kästner)