Der alte Mann und sein Dorf
Längst sind die Reifenspuren des Touristen, einem erfolgreichen Manager, der einst sein Dorf besuchte, vom Regen weggespült – aber nicht die Gedanken des alten Mannes an das Gespräch. Unzählige Male nickte er in seinem knarrenden Schaukelstuhl ein und malte sich aus, was passieren würde, wenn einer im Dorf für die Idee des Managers empfänglich wäre. Was würde sich ändern? Wie könnte man diesen Wandel begleiten, so dass die Dorfgemeinschaft nicht eines Tages eine Kopie der westlichen Kultur werden würde, sondern ihre eigene Kultur bewahren könnte?
Dem alten Mann war klar, dass er nicht alleine auf eine tragfähige Lösung kommen würde und so machte er sich auf, seine Erlebnisse in einer Geschichte zu verweben. Diese Geschichte ging von Lagerfeuer zu Lagerfeuer und so von Dorf zu Dorf…
Eines Tages spürte er, dass die Zeit gekommen war. Er lud diejenigen zu einem Treffen ein, welche die Geschichte genauso nachdenklich machte, wie ihn selbst. Gemeinsam wollten sie nach einer Lösung suchen: nach ihrer Lösung. Es sollte dabei nicht nur um ihr Dorf gehen, sondern auch um die anderen Dörfer – denn er wusste bereits, dass eine lokale Lösung in einer globalisierten Welt nicht lange Bestand haben würde.
Seine erste Prämisse war es, Gemeinsamkeiten zu finden, die das Interesse nicht nur eines Einzelnen widerspiegelten, sondern auch von jenen, denen man anfangs fremd war. Es ging ihm darum, Sicherheit nicht bei und für sich selbst zu suchen, sondern die Sicherheit der anderen in den Vordergrund zu stellen. Er war sich sicher, dass ihm dann dieselbe Sicherheit zuteil würde, wenn er für die Sicherheit der anderen sorgte.
Die Vorbereitungen waren einfach aber wirksam. Jeder brachte etwas ess- und trinkbares aus seinem Dorf mit und so dauerte es nicht lange, bis ein reichhaltiges und abwechslungsreiches Mahl entstand. Allein dies war für viele schon ein Grund zu kommen. Wann hatten sie sonst Gelegenheit soviele andere Speisen und Zubereitungen kennenzulernen?
Den Abend noch verbrachten sie am Lagerfeuer und warteten bis alle eingetroffen waren. Sie feierten ausgiebig, sangen und tauschten sich lebhaft aus. Das eigentliche Thema, für das sie alle erschienen waren, bekam auch noch seinen angemessenen Raum, daran bestand kein Zweifel …
Der Morgen konnte schöner nicht sein. Ein Sonnenaufgang, unvergleichlicher Klarheit und von einer Ruhe getragen, die nicht passender sein konnte. Keine Hektik machte sich bei den Gästen breit, niemand drängte, jeder machte sich in seinem Tempo und in Ruhe auf und dennoch trafen alle zeitgleich am Versammlungsort ein.
Mit Blumen geschmückt und viel frischem Obst, so wie es in ihrer Kultur die alte Gastfreundschaftstradition gebot, machten sich alle frohen Mutes an die gewaltige Aufgabe. Da alle freiwillig kamen und sich ihrer Verantwortung bewusst waren, sparten sie es sich, einen Anführer zu wählen oder einen Moderator zu benennen. Derjenige oder Diejenige – denn es waren auch viele Frauen und Kinder versammelt –, der etwas zu sagen hatte stand auf, trat aus dem Kreise in die Mitte und sprach. Auch die, die nicht das Gesicht des Redners sehen konnten, vernahmen aufmerksam seine Sprache. Sie mussten aber nicht lange warten, dann drehte sich der Redner zu ihnen – nun konnten die anderen nur dessen Sprache vernehmen, sie aber, die zuvor noch in dieser Situation waren, sahen und hörten nun beides so, als spräche dieser direkt zu ihnen. Die Atmosphäre war von Achtsamkeit und gegenseitigem Respekt getragen.
Es waren wohl gut an die einhundert Mensch an diesem Ort versammelt. Der Raum war zwar nicht für diese Menge ausgelegt, dadurch, dass alle eng in zwei Kreisen zusammensaßen – einen äußeren und einem inneren – fanden alle ihren Platz. Die Kleineren weiter vorne, die Größeren in der hinteren Reihe. Keiner hatte das Gefühl, etwas zu verpassen und jeder hatte eine gleich gute Sicht auf den stehenden Redner, der alle überragte.
Jeder kannte die Geschichte vom erfolgreichen Manager, so wie sie der alte Mann einst überliefert hatte und alle wussten um ihre Brisanz. Vereinzelt wurden bereits an der Küste größere Fischerboote gesichtet, die unter fremder Flagge fischten. Längst kamen auch in die anderen Dörfer Touristen, die in gut gemeinter Absicht, ihre Kultur ins Dorf trugen. Längst waren die Kinder von dem vorgeblichen Wohlstand angesteckt. Längst wurden die Jüngsten mit Süßigkeiten beglückt – zum Leidwesen ihrer Gesundheit. Kurzum es war Fünf-vor-Zwölf!
Sie diskutierten sehr kontrovers, achteten jedoch stets die Meinung der anderen, wohl wissend, dass der Einzelne alleine keine Lösung zu finden vermag. Einer der Älteren vertrat die Ansicht, dass sie diejenigen, die sich auf die Verlockungen einlassen, hart bestrafen sollten. Ein jüngeres Mädchen warf ein, dass sie sich den Süßigkeiten kaum entziehen können – zu verlockend waren diese aufgemacht. Ein Anderer warf ein, dass es auch etwas Gutes habe, was die Touristen ihnen brachten. So kam einst ein Reisender bei ihrem Dorf vorbei, welcher ihnen ihre Schrift zu lesen beibrachte und einige sehr wertvolle, alte Bücher überließ.
Ein Anderer erwiderte, dass er kürzlich von einem Transportmittel erfahren habe, mit dem man mühelos schwere Lasten bewegen konnte. Sie machten sich – unter der Anleitung des Fremden – daran, dieses Transportmittel aus Holz nachzubauen. Seitdem wird die hölzerne Sackkarre für die schweren Steine genutzt, die im Weg liegen.
Es gab noch viele andere Beispiele, für und wider der modernen Errungenschaften. Am Ende des Tages und nach vielen Pausen waren alle Argumente ausgetauscht. Man beschloss den Abend gemeinsam am Lagerfeuer zu verbringen und es für heute dabei bewenden zu lassen. Morgen werden wieder alle an diesem Ort zusammentreffen und man wird beratschlagen, was man zu tun vermag. Heute Abend aber soll gefeiert werden!
So kam die Nacht und hüllte das Dorf in Dunkelheit. Nur das große Lagerfeuer erhellte alle Menschen, die sich darum versammelten. Es waren fröhliche Menschen und doch erkannte man, dass eine große Last auf ihren Schultern ruhte. Der folgende Tag war von einer Leichtigkeit ergriffen, keine Spur mehr von den kontroversen Gedanken des Vortags. Wieder versammelten sich alle Interessierten in dem kleinen Raum. Es waren nicht mehr so viele da, wie am Vortag, aber dennoch zu viele, um nur einen Kreis zu bilden. So wurden wieder zwei Sitzkreise geformt – ein äußerer für die körperlich Größeren und ein innerer für die körperlich Kleineren. Nur diesmal trat der alte Mann, der die Geschichte in die Dörfer brachte, in die Mitte der beiden Kreise. Augenblicklich wurde es still und alle lauschten seinen Worten: „Ich danke Euch für die vielen Sichtweisen, die wir gestern geteilt haben!“
Nach einer kurzen Pause setzte der alte Mann erneut an: „Viele Worte wurden gestern gewechselt, Worte die noch lange nicht verhallt sind. Nun ist es an der Zeit die Gedanken in einen stetigen Fluss zu bringen, damit uns dieser auch in Zukunft tragen kann.“ Alle Zuhörer bestätigten seine Worte auf ihre Art und Weise, ein Raunen ging durch den Raum.
„Liebe Freunde,“, setzte der alte Mann plötzlich an, „lasst uns diesen Tag beraten, wie wir zukünftig Sorge tragen können, unsere Kultur zu erhalten und uns den Einflüssen öffnen, die vor unserer Tür stehen und nach Einlass verlangen.“ Es waren keine einfachen Worte für ihn, aber er wusste, dass er trotz seines Alters eine Verantwortung trägt. Seine Erfahrungen, gepaart mit der Hoffnung und der schöpferischen Kraft der Jugend, so spürte er, brachten ihn in eine Stimmung der heiteren Gelassenheit.
Allen war klar, das die gesellschaftlichen Modelle, von denen sie bisher erfahren hatten, sei es durch die Kunde der Touristen oder durch Bücher, nicht das Modell für sie sein konnte. Zu sehr sind die fremden Modelle von einem unbändigen Wachstumsgedanken durchdrungen, der letztendlich ins Verderben führen muss. So machten sie sich frei von allen Gedanken und Erfahrungen. Durch diese Freiheit war plötzlich Raum geschaffen, der neue Gedanken aufnehmen konnte. Diese Gedanken sind mit Worten kaum zu beschreiben. Es war ein Spiel der Farben, die sich kreisförmig nach oben schraubten. Oben angekommen, drehten sie sich abermals kreisförmig um nach unten zu schweben. Dabei nahmen sie unterschiedliche Formen und Gerüche an. Nach einer weiteren Wendung kamen sie wieder zum Anfang und setzen ihre Rundreise abermals fort. Es entstand eine gedankliche, liegende 8ter-Bahn – das Zeichen für Unendlich: ∞.
Nachdem sich alle Anwesenden bewusst an dieser Gedankenausrichtung beteiligten und die Form immer schneller und dichter wurde, gleichsam aber auch reicher an Farben, Formen und Gerüchen, erhoben sich alle und schlossen sich ebenfalls zu zwei Kreisen zusammen. Ihre äußere Form entsprach nun auch die ihrer Gedanken.
Das Ergebnis war ein zweistufiger Prozess. Der eine Kreis bildete das, was sich unmittelbar ergibt, der andere Kreis war in die unbekannte Zukunft gerichtet. Die Ältesten und Weisesten sollten den zweiten Kreis beleben um mit ihrer Weitsicht die Prozesse anzustoßen, deren Ausgang heute noch keiner ermessen kann. Der erste Kreis, der das Unmittelbare betrifft, soll aber bunt gemischt werden. Jedes Dorf sollte mindestens einen Menschen in diesen Kreis entsenden. Hier sollte gemeinsam entschieden werden, welche kurzfristigen Veränderungen entstehen. Beide Kreise aber verband das Band der Unendlichkeit und so war allen klar, dass auch der Austausch beider Kreise durch die Menschen lebt, welche diese Kreise mit Leben füllen.
Jeder konnte in den unmittelbaren Kreis eintreten und sich einbringen, er musste nur bewusst genug sein, den Kreis durch seine Präsenz zu bereichern. Ergab sich aus dem Mut und der Vernunft irgendwann die Weisheit, so war er bereit für den zweiten Kreis, der die Kultur der Gemeinschaft auch in einer fernen Zukunft erhält.
Wenn einst der Tag kommt, an dem
das Wasser nicht mehr fließt,
der Wind nicht mehr weht
und das Leben nicht mehr sprießt,
ist es zu spät … sich seiner Fehler
bewusst zu werden.
Wie aber erging es dem erfolgreichen Manager? Was lernte dieser aus der Begegnung mit dem alten Mann? Hier geht die Geschichte weiter…
Und jetzt nochn Tipp – ich trau michs kaum, dem Meister selbst anzuvertraun:
So schön sie ist, die Belletristik, ist doch das Folgende nicht minder wichtig:
Den Text ein wenig einzudampfen, lässt mein Gehirn weniger verkrampfen –
ist doch die Welt voller Verschwörung, die ich allsamt mir zu Gehör bring.. (en soll ) Wenns möglich wär, wärs wunderbar – für L.L und alle da.
Es kommt die Zeit der kurzen Worte, doch diese Geschicht‘ die braucht diese Sorte. Drum wählte ich hier den Takt der Meister, die längst vergessenen Geister. Die einst beschienen uns’re Kultur, gemacht zu haben zu dem, was ich in der Schule erfuhr. Drum ehre ich in langen Worten, die Kunst der längst vergessenen Spuren. Erblühen die in einer Zeit, die längst vergessen steh’n bereit.
Und nur für Sie ein weiterer Sörvice für die Kommentare: „Benachrichtige mich über nachfolgende Kommentare per E-Mail.“
Setzen. Sehr gut.
Danke für das niedliche Kästchen. Manchmal verliere ich tatsächlich den Überblick
Gerne. Jetzt muss ich aber meinen Geist etwas ruhen lassen, sonst fliegen die Pfeile nicht dorthin wo ich will.
Bis die Tage dann…
Hm… ganz netter, besinnlicher Text.
In einem kleinen Dorf kann man vermutlich auch noch gut im Kreis stehen und sich am Lagerfeuer verständigen.
Eine Utopie für „Gesellschaft“ im Großen sehe ich da aber nirgends. Und was Menschen vom Leben im Dorf halten, sieht man ja am allgemeinen Mega-Trend zum Gang in die Städte.
Ich sehe durchaus auch das Große, man muss nur mehr als zwei Kreise ziehen und diese Kreise intelligent vernetzen. Dazu muss man sich aber zuerst von den Denk-Blockaden befreien – so wie es auch die Menschen in Dorf machten.