Das Dilemma des Gefangenen
Er war ein stattlicher Mann und der hat sich dem Anschein nach nichts zu Schulden kommen lassen. Vielleicht könnte man ihn naiv nennen, aber das trifft es nicht gänzlich. So nur lässt sich erklären, dass er eines Tages eines Verbrechens schuldig gesprochen wurde, dass er gar nicht begangen hat.
Der Schock saß zu tief, um sich angemessen verteidigen zu können. Vielleicht war es auch einfach Resignation. Der Verlust an Vertrauen, seine Gutmütigkeit und Großzügigkeit so ausgenutzt zu sehen. Aber alles Wehklagen half nichts, er musste seine Strafe – ob nun zu Recht oder Unrecht – antreten!
Seine Gefängniszelle lag geschickt. Morgens weckte ihn die Sonne und Nachmittags konnte er dem bunten Treiben jenseits der Gefängnismauern beiwohnen – wenn auch durch ein Gitter und unüberwindbare Mauern getrennt.
Die Tage vergingen und eine gewisse Routine stellte sich ein. Täglich zur gleichen Zeit gab es Essen und ausreichend Trinken. Die Qualität war sicherlich nicht vergleichbar mit derjenigen, die er sich vor seiner Strafe gönnte. Aber das Essen machte satt und das Trinken stillte den Durst.
Längst hatte sich sein Hungergefühl dem vorgegebenen Tagesrhythmus gebeugt, sein Geschmackssinn auf den immer gleichen Geschmack geeicht. Auch sein Schlaf-Wach-Rhythmus bekam feste Konturen: Vormittags genoss er die Ruhe und nachmittags verfolgte er gespannt der Treiben außerhalb des Gefängnisses. Durch die erhöhte Position seiner Zelle im fünften Stockwerk des Gebäudes blieb seinen aufgeweckten Augen nichts verborgen.
Er sah, wie die Gesellschaft zunehmend verrohte. Schlägereien waren an der Tagesordnung. Demonstrationen gegen dies und jenes nahezu jedes Wochenende. Unfälle gab es ebenfalls zuhauf. Was er dann noch durch die Tageszeitung erfuhr, bestärkte ihn in dem Gedanken der zunehmend aus den Fugen geratenen Gesellschaft. Nicht nur vor seinem kleinen, vergitterten Fenster ging es so zu, sondern im ganzen Land, wenn nicht sogar auf der ganzen Welt.
Er war froh, hier einen Ort gefunden zu haben, der ihn vor dieser Welt – die nicht die seine war – schützte. Vielleicht war es ein gutes Zeichen, damals nicht für sein Recht einzustehen und die Dinge laufen zu lassen, so wie sie kamen?!
Die Tage vergingen und es kam der Tag, an dem die Strafe verbüßt war. Völlig überraschend traf ihn dieses Ereignis. Angst machte sich breit. Wie soll er in dieser veränderten Welt bestehen? Wie soll er dort wieder Halt finden? Längst ist seine Gefängniszelle ihm zur neuen Heimat geworden. Er war bereit für sein Recht einzustehen, sein Recht zu bleiben!
Wenn er schon wegen dem geschehenen Unrecht seine Zeit hier absitzen musste, dann hat er auch das Recht weiter hier zu bleiben. Notfalls, ja notfalls könnte er sich ja etwas einfallen lassen, das ihn wieder hier hin zurück bringt. Er war zwar ein friedliebender Mensch, aber in der Not frisst der Teufel Fliegen, heißt es doch so treffend. Nur nicht zurück in diese gestörte Welt, das stand fest!
Der Verstand scheint einer Mauer gleich, die einem die Sicht versperrt.