Die Kraft des Individuums
Es gibt ein paar kleine, aber entscheidende Unterschiede zu den Vergleichen aus der Biologie, z.B. der Ameisenstaaten oder der Bienenvölkern. Sie alle sind hierarchisch organisiert und funktionieren auch genauso. Eine Königin gibt den Kurs vor und die Untertanen folgen diesem Kurs bis in den eigenen Tod. Zu welchen Verwirrungen ein individuelles „Bewusstsein“ in solchen „Schwarmintelligenzen“ führen kann, habe ich in den Ameisengeschichten skizziert.
Bei uns Menschen – also der Fortentwicklung der Primaten, wenn man so furchtlos schreiben darf – führt diese hierarchische Gesellschaftsform immer wieder zu Verwerfungen. Das liegt wohl in besagter primatischer Vorgeschichte, was uns näher an eine individualisierte Gesellschaft stellt, statt besagter hierarchischer. Die Kraft des Individuums hat uns jenen technischen Fortschritt gebracht, von dem wir uns als kultivierte Menschen gerne gegenüber den Affen abgrenzen. Dabei vergessen wir zu oft, dass die Herde noch immer in unseren Tiergenen enthalten ist. Wir folgen gerne jenen, die glauben den Weg zu kennen…
Dieses Verhalten ist auch nicht ungünstig. Ganz im Gegenteil, es geht sparsam mit unserer Verfügbaren (Lebens-)Zeit und Energie um. Wir müssen uns so nicht in ein Thema einarbeiten, was Zeit und Energie kostet, und kommen dennoch zu einem Ziel. Zwar nicht unser gewähltes, aber immerhin, wie kommen an. Unser Gehirn sorgt im Nachgang (ähnlich der Nachrichten), dass alles passend gemacht wird. So glauben wir zum Schluss gar, dass wir selbst auf die zündende Idee kamen, nur ein Anderer sie vor uns ausgesprochen hat. Kohärenz nennen das dann die Hirnforscher, denen dieses Verhalten schon längst ein Dorn im Auge ist.
Soweit, so gut. Die Frage ist nur, wie kommen wir zu solchen Individuen, die uns diese Innovationen bescheren. Diese Frage ist gar nicht so einfach und wir haben bisher auch keine zündende Idee gefunden, die einer kritischen Prüfung standhält. Die Gründung von Universitäten jedoch war keine jener Ideen, die geholfen haben, unsere innewohnenden Potentiale zu entfalten. Schauen wir uns die wesentlichen Innovationen der Vergangenheit an – von der Dampfmaschine, zur Eisenbahn, zum Automobil, zum Computer etc. – so müssen wir die Tatsachen schon sehr verbiegen, um mit Fug und Recht sagen zu können, diese Erfindungen sind der Geist einer Universität entsprungen. Dem gegenüber stehen die vielen (möglichen) Erfindungen, die durch die Universitäten und den uniformen Geist verhindert wurden.
Nein, wir wissen bis heute nicht, wie es zu solch bahnbrechenden Erfindungen kommt. Welcher Erfindergeist nötig ist, lässt sich nur grob skizzieren: beGEISTerung, scheint einer davon zu sein. Die aber schafft unser Schulsystem (wozu ich die Universitäten auch zähle) mit einem Spürsinn an Präzision in kürzester Zeit einfach ab. Freies Denken – und, was noch wichtiger ist: freies Handeln – steht nicht auf dem Lehrplan. Nach-denken und jenes Wieder-holen, was längst Alltag ist, steht auf den Lehrplänen. Wie durch dieses Haltung Menschen zu Vor-denkern oder Neu-denkern werden sollen, wusste womöglich nicht einmal der Erfinder solcher Lehrmethoden. Das konnte er auch nicht wissen, denn in der Methode liegt nicht der Gestaltungsrahmen um neues zu entdecken. Keine Methode reicht hier das Wasser für Neues – alleine die Bindung an einen Menschen, der in der Lage ist ein sicheres Lernumfeld zu schaffen, schafft genau jene Brücke, in dessen Umfeld erst Innovationen entstehen.
Kommen wir nochmals zurück zu unseren Hierarchien und dem damit verbundenen Weltbild.
Selbst in den Monarchien unserer Vorzeit war es nicht möglich, eine durchgängige Zeit von Zuversicht und Frieden zu gestalten. Selbst wenn der amtierende Monarch mit Weitsicht und Güte gesegnet war und er alle erdenklichen Methoden und Lehrmeister für seinen Nachwuchs rekrutiert hatte um den Fortbestand seiner Art der Führung zu sichern, war dieser Absicht meist kein glückliches Ende beschieden. Seine Nachfahren hatten wohl andere Vorstellungen von Menschenführung und lebten diese nach dem Ableben ihres Vaters dann genüsslich aus. Das wundert auch nicht, ist Lernen doch ein zu tiefst innerer Prozess, der von außen nur bedingt gesteuert werden kann. Und so kommt es – auch mit besten Absichten – oftmals dann nicht zur Kraft des Individuums, sondern zur Macht des Individuums.
Mit dieser Machtfülle ausgestattet tragen selbst heute noch jene Menschen ihre Ziele voran, die in gutem Glauben meinen, die Lösung für die knapp 8 Milliarden Individuen auf dieser Welt zu haben. Sie bezeichnen sich dann gerne als Philanthropen, bekommen Zuhörer für ihre Pläne zur besten Sendezeit und genießen die Aufmerksamkeit im Scheinwerferlicht ihres nach oben erkämpften Lebens. Dabei bleiben sie Bedürftige bis zum letzten Atemzug, es sei denn, ihre Macht gereicht ihnen zur eigenen Ohnmacht.
Was uns als Gesellschaft – wollen wir nicht zu einem Staat oder Volk wie den Ameisen oder Bienen werden, bei denen jeder der aus der Reihe tanzt kurzerhand der Kopf abgebissen wird – nur noch hilft, ist, uns dieser Kraft des Individuums bewusst zu werden.
Über diese Bewusstheit können wir uns sodann eine Haltung aneignen, in der wir für das Wohl des Individuums sorgen und nicht nur für unser Eigenes. In einer Verbundenen, sich gegenseitig stützenden Beziehung gelingt das, was Lösungen so charmant macht: sie lösen etwas. Probleme, die einer Lösung bedürfen, haben wir genügend. Es fehlt uns nur an einem gesunden Repertoire an Lösungsansätzen, die es verdienen, so bezeichnet zu werden.
Damit hätten wir auch langfristig mit unserer (Lebens-)Zeit und der verfügbaren Energie gehaushaltet und würden uns ganz nach den Gesetzen des zweiten Thermodynamischen Hauptsatzes verhalten.